OLG Koblenz, 01.12.2003 - 12 U 1553/02, StVG, 7, 17, BGB, 254, 823, Unfall, Kollision, Linksabbieger, überhoehte, Geschwindigkeit, entgegenkommend, Fahrzeug, Zurechnung, Zeit, spaeter, Unfallstelle, Ursachenzusammenhang, vermeidbar, Haftungsverteilung, Gefaehrlichkeit, Abbiegen, Ueberquerung, Gegenfahrbahn, Linksabbiegen, grobes, Verschulden, Wartepflichtiger, Mitverschulden, free, Giessen, Wetzlar, Marburg, Limburg, Frankfurt, Berlin, Hamburg, Muenchen, Koeln, Leverkusen, Bochum, Dortmund, Essen, Dresden, Leipzig, Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande, Daenemark, Irland, Grossbritannien, Nordirland, Griechenland, Portugal, Spanien, Finnland, Oesterreich, Schweden, Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakien, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn, Zypern
StVG § § 7, 17; BGB §§ 254, 823

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OLG Koblenz, Urteil vom 01.12.2003 - 12 U 1553/02 *

Tatbestand: Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche der Kl. aus einem Verkehrsunfall, der sich am 30. 5. 1999 gegen 2.20 Uhr nachts auf der R-Straße in M. zugetragen hat. Die Kl. ist als Taxiunternehmerin Eigentümerin und Halterin des als Taxi ausgestatteten Pkw, der beim Unfall von ihrem Angestellten K geführt wurde. Dieser befuhr die insgesamt vierspurige R-Straße, deren Doppelfahrspuren in die beiden Fahrtrichtungen durch Straßenbahngeleise voneinander getrennt sind, in Richtung Innenstadt. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit ist dort auf 60 km/h begrenzt. Der Bekl. zu 1 führte den Pkw, dessen Halter der Bekl. zu 2 ist und der bei der Bekl. zu 3 gegen Haftpflicht versichert ist, zunächst in der Gegenrichtung, um dann nach links in die A-Straße abzubiegen. An dieser Stelle besteht eine vierstrahlige, weitgehend rechtwinklige, weitangelegte Kreuzung, deren Ampelanlage zum Unfallzeitpunkt im Nachtverkehr ausgeschaltet war. Der Bekl. zu 1 überquerte die Straßenbahnschienen und fuhr in die Gegenfahrspur der R-Straße ein, auf der ihm K mit dem Fahrzeug der Kl. auf der Überholspur der Gegenfahrbahn seitlich entgegen kam. Der Pkw der Kl. stieß frontal mit seiner vorderen linken Fahrzeugkante auf die rechte Vorderkante des Pkw des Bekl. zu 2. Das Fahrzeug der Kl. wurde durch den Anprall auf das Fahrzeug des Zeugen A geschleudert, das an der gegenüberliegenden Einmündung der A-Straße in die R-Straße hielt. Die Fahrzeuge der Kl. und des Bekl. zu 2 wurden erheblich beschädigt, die beiden Fahrzeugführer verletzt. Die Bekl. zu 3 hat den Schaden der Iä außergerichtlich unter Annahme einer Haftungsquote von einem Drittel ausgeglichen und 7552,11 DM an sie gezahlt. Die Kl. erstrebte in erster Instanz eine Verurteilung der Bekl. wegen weiter gehender Schäden auf der Grundlage einer vollen Haftung der Bekl.

Das LG hat die Bekl.'unter Klageabweisung im Übrigen auf der Basis einer Haftungsquote von 80 : 20 zu Gunsten der Kl. zur gesamtschuldnerischen Zahlung von 5689,86 Euro nebst Zinsen verurteilt. Die zulässige Berufung hatte keinen Erfolg.



Entscheidungsgründe: II. Das angefochtene Urteil ist im Prüfungsumfang des § 529 ZPO n. E. nicht zu beanstanden. Die Verurteilung der Bekl. als Gesamtschuldner zur Zahlung weiteren Schadensersatzes auf Grund einer Haftungsquote von 80 : 20 weist keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Bekl. auf; sie entspricht auch der Sachlage.

1. Ein Bus war nach den Angaben der unmittelbaren Augenzeugen des Geschehens für den Unfall nicht relevant; er wurde von diesen Zeugen am eigentlichen Unfallort nicht wahrgenommen. Mit seiner vorherigen Präsenz an anderer Stelle musste sich das LG bei dieser Sachlage nicht ausdrücklich auseinander setzen. Auch Art. 103 I GG fordert eine Begründung gerichtlicher Entscheidungen nur hinsichtlich der wesentlichen Aspekte (vgl. BVerfGE 47, 182 [189] = NJW 1978, 989; BVerfGE 58, 353 [3571 = NJW 1982, 30).

2. Dass der Eindruck der Zeugen vom "Hineintasten" des Bekl. zu 1 in die bevorrechtigte Fahrspur im landgerichtlichen Urteil unerwähnt geblieben ist, stellt keinen Fehler dar. Ein Hineintasten ist rechtlich nur erforderlich, wenn die Verkehrslage unklar ist. So war es hier bei freier Sicht und beleuchteten Fahrzeugen auf der Gegenfahrspur nicht. Im Ermittlungsverfahren war definitiv geklärt worden, dass das entgegenkommende Taxi beleuchtet war. Die Zeugin W hat sich Jahre später bei der Vernehmung im Zivilprozess daran zwar nicht mehr erinnert. Aber das schadet nicht. Fehlende Beleuchtung gegen 2.20 Uhr wäre den anderen Augenzeugen des Unfallgeschehens als markanter Umstand aufgefallen. Es findet sich kein konkreter Hinweis dafür, dass ein solcher atypischer Beleuchtungszustand vorlag. Die zeitnäheren Zeugenangaben der Zeugen A und W besagen das Gegenteil. Dann können die Bekl. aus der Behauptung, es fehle an Nachweisen zum konkreten Beleuchtungszustand nichts für sich herleiten. Das "Hineintasten" ist auch tatsächlich mit der vom LG ersichtlich gebilligten Feststellung des Sachverständigen L, die Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs habe mindestens 15 km/h betragen, nicht vereinbar. Diese Annahme ist aus dem Beschädigung- und Spurenbild sowie dem Ablauf, wie es aus dem nachkollisionären Bild zu entnehmen ist, gefolgert. Das ist nachvollziehbar, fügt sich bruchlos in das Bild des Gesamtgeschehens und ist vom Senat mit Blick auf § 529 I ZPO zu Grunde zu legen.



3. Die Annahme einer Haftungsverteilung auf beide Parteien und die Einschätzung der Haftungsanteile der Parteien gem. § 17 StVG durch das LG entspricht der Sach- und Rechtslage. Beide Parteien trifft eine Mithaftung, wobei der Anteil zu Lasten der Bekl. wesentlich überwiegt.

a) Die festgestellte Geschwindigkeitsüberschreitung des Taxifahrers der Kl. ist als Abwägungsfaktor allerdings zu berücksichtigen. Ein Unfall kann einer Geschwindigkeitsüberschreitung eines Verkehrsteilnehmers zwar nicht allein deshalb zugerechnet werden, weil das Fahrzeug bei Einhaltung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit erst später an die Unfallstelle gelangt wäre, vielmehr muss sich in dem Unfallgerade die auf das zu schnelle Fahren zurückzuführende erhöhte Gefahrenlage aktualisieren. Der rechtliche Ursachenzusammenhang zwischen Geschwindigkeitsüberschreitung und Unfall ist aber dann zu bejahen, wenn bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit zum Zeitpunkt des Eintritts der kritischen Verkehrssituation der Unfall vermeidbar gewesen wäre (BGH, NJW 2003, 1929 = VersR 2003, 783 [785]). Die kritische Verkehrslage beginnt für einen Verkehrsteilnehmer dann, wenn die ihm erkennbare Verkehrssituation konkreten Anhalt dafür bietet, dass eine Gefahrensituation unmittelbar entstehen kann. Für einen Vorfahrtsberechtigten Verkehrsteilnehmer ist dies in Bezug auf seinen Vorrang zwar nicht bereits der Fall, wenn nur die abstrakte, stets gegebene Gefahr eines Fehlverhaltens anderer besteht, vielmehr müssen erkennbare Umstände eine bevorstehende Verletzung seines Vorrechts nahe legen. Von Bedeutung sind hierbei neben der Fahrweise des Wartepflichtigen alle Umstände, die sich auf dessen Fahrweise auswirken können, also auch die Fahrweise des Bevorrechtigten selbst. Gibt er dem Wartepflichtigendurch einen Verkehrsverstoß Anlass, die Wartepflicht - namentlich infolge einer Fehleinschätzung der Verkehrslage - zu verletzen, so kann die kritische Verkehrslage bereits vor der eigentlichen Vorfahrtsverletzung eintreten. So liegt es hier. Der Fahrer des Taxis der Kl. hat durch die nicht unerhebliche Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit dem Bekl. zu' 1 Anlass gegeben, die Geschwindigkeit » des bevorrechtigten Verkehrs fehlerhaft einzuschätzen. Das gilt auch mit Blick auf die Dunkelheit zur Zeit des Unfalls, die eine Geschwindigkeitseinschätzung erschwert hat. Der Bekl. zu 1 hat nach den Geschwindigkeitsfeststellungen des Sachverständigen L nicht angehalten, sondern er ist ohne weiteres mit einer Geschwindigkeit von mindestens 15 km/h in die Gegenfahrspur hineingefahren~ auch das bot für den Taxifahrer der Kl. Anlass zur frühzeitigen Reaktion auf eine erwartbare Vorfahrtverletzung. Die Kl., die das landgerichtliche Urteil nicht angreift, den genannten Aspekt aber zur Rechtsverteidigung gegenüber der Berufung der Bekl. einwendet, ist daher nicht von jeder Mithaftung befreit.

b) Eine Verletzung von § 9 III StVO durch den Bekl. zu 1 liegt schon nach dem ersten Anschein, der nicht widerlegt ist, vor. Er ist als Linksabbieger auf die Fahrspur des bevorrechtigten Verkehrs gefahren, wo der Zusammenstoß mit dem Taxi der Kl. stattgefunden hat. Das Taxi der Kl. hat sein Vorrecht nicht dadurch verloren, dass der Taxifahrer die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten hat (vgl. BGH, VersR 1977, 524 [525]; VersR 1986, 579; NJW 2003, 1929 = VersR 2003, 783 [784]).



Die Verletzung der Wartepflicht, die dem Linksabbieger gegenüber dem entgegenkommenden obliegt, wiegt im Kollisionsfall schwerer als der Umstand, dass der entgegenkommende Fahrer die zulässige Geschwindigkeit überschritten und dem Einbiegevorgang nicht genügende Beachtung geschenkt hat. Dies gilt umso mehr als der Bekl. zu 1 auf der übersichtlichen und gut ausgebauten Straße zum Unfallzeitpunkt bei abgeschalteter Lichtzeichenanlage auch mit Geschwindigkeitsüberschreitungen des Gegenverkehrs rechnen musste (vgl. OLG Bamberg, VersR 1975, 813 m. w. Nachw.) Die Rechtsprechung hat ganz allgemein für die Schadenverteilung gem. § 17 StVG im Hinblick auf die Gefährlichkeit des Abbiegen unter Überquerung der Gegenfahrbahn und die hieraus resultierenden besonderen Verpflichtungen des Linksabbiegers den Grundsatz entwickelt, dass Linksabbiegen vor einem erkennbar in schneller Fahrt entgegenkommenden Kraftfahrzeug ein derart grobes Verschulden des Wartepflichtigen begründet, dass im Fall eines Zusammenstoßes ein etwaiges Verschulden des Entgegenkommenden, das im Einzelfall nur in einer leichten Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit liegt, ebenso ganz zurücktritt wie die Betriebsgefahr seines Fahrzeuges (BGH, VersR 1964, 514). Was unter einer leichten Geschwindigkeitsüberschreitung zu verstehen ist, ist grundsätzlich nach den Gesamtumständen des Falles zu beurteilen. indes hat sich die Rechtsprechung auch auf den Standpunkt gestellt, dass bei guten Straßen-, Sicht-und Wetterverhältnissen ein erfahrener Verkehrsteilnehmer mit Geschwindigkeitsüberschreitungen des Entgegenkommenden bis zur Höhe von 40% rechnen muss(OLG Bamberg, VersR 1975, 813 m. w. Nachw.). Hier ging die Geschwindigkeitsüberschreitung über das zu vernachlässigende Maß hinaus. Sie lag nach Ansicht des LG mit hoher Wahrscheinlichkeit im oberen Bereich der vom Sachverständigen L angenommenen Spanne von 70 - 90 km/h; nach Ansicht des Senats ist dies sogar sicher. Das folgt daraus, dass die vom Taxi der Kl. überholten Zeugen W ihre eigene Fahrgeschwindigkeit auf 60 km/h eingeschätzt haben und davon ausgegangen sind, dass diejenige des Taxis wesentlich höher gewesen ist. Dies entsprach auch dem Eindruck des Zeugen A, der das Geschehen aus seitlicher Perspektive beobachtet hat.

Im Übrigen kann der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs auch deshalb nicht im Rahmen des § 17 StVG völlig von der Haftung freigestellt werden, weil nicht bewiesen ist (§ 7 II StVG a. E), dass der Bekl. zu 1 erst zu einem Zeitpunkt nach links eingebogen ist, als ihm auch bei Einhaltung einer Geschwindigkeit von 60 km/h durch den Taxifahrer eine sachgerechte und erfolgreiche Abwehrreaktion nicht mehr möglich war.



c) Nach allem sind gem. § 17 StVG beide Parteien zur Mit Haftung heranzuziehen. Bei der Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen von § 17 StVG oder § 254 BGB ist in erster Linie das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; das beiderseitige Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung (BGH, NJW 1998, 1137 = VersR 1998, 474 [475]; BGH, NJW 2003, 1929 = VersR 2003, 783 [786]). Die Abwägung kann nicht schematisch erfolgen. Sie ist auf Grund aller festgestellten Umstände des Einzelfalls vorzunehmen.

Dabei fällt hier zu Lasten der Bekl. ins Gewicht, dass der Bekl. zu 1 mit mindestens 15 km/h in die Doppelfahrspur des bevorrechtigten Verkehrs eingefahren ist, obwohl sich auf beiden Fahrspuren Kraftfahrzeuge näherten, nämlich auf der rechten Fahrspur die überholten Zeugen W und auf der linken Fahrspur als Überholer der Taxifahrer der Kl. Diese beleuchteten - Fahrzeuge waren für den Bekl. zu 1 erkennbar. Unter diesen Umständen wiegt der dem Fahrer des Taxis der Kl. auszulastende Verursachungsanteil durch die Geschwindigkeitsüberschreitung im Verhältnis zum Verursachungsanteil des Bekl. zu 1 so wenig, dass die Bekl. der Kl. vier Fünftel des ihr entstandenen Schadens zu ersetzen haben. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Unfallort um eine weitläufige Kreuzung gehandelt hat, die für den Bekl. zu 1 gut zu überschauen war. Ferner fällt die gegenüber der sonstigen Ortsgeschwindigkeit heraufgesetzte zulässige Höchstgeschwindigkeit ins Gewicht; dadurch wird angedeutet, dass dem Vorrang auf der mehrspurigen Ausfallstraße gegenüber dem Querverkehr größere Bedeutung zukommt, als dies bei dem Verkehr auf einer normaler Durchgangsstraße im innerörtlichen Bereich der Fall ist. Auch das relativiert das Gewicht der Geschwindigkeitsüberschreitung des Taxifahrers der Kl.

Bei dieser Konstellation ist eine Haftungsverteilung von 80 : 20 zu Lasten der Bekl. der Sachlage angemessen (vgl. auch OLG Bamberg, VersR 1975, 813; OLG Dresden, Schaden-Praxis 1999, 264).

4. Die Ausführungen des LG zum Schadensumfang werden von der Berufung nicht ausdrücklich in Frage gestellt. Dagegen ist auch sonst nichts zu erinnern.



* Quelle: NJW-RR 2004, 392 ff